Praxisfälle der rechts- und steuerberatenden sowie wirtschaftsprüfenden Berufe – 07/2021
Scheinbar „tatsächlich“, tatsächlich „rechtlich“
Eine zusammenfassende Darstellung zu BGH, Urteil vom 14.02.2019 – IX ZR 181/17.
I. Streitgegenstand
Der Ausgangssachverhalt ist schnell erzählt: Der Arbeitgeber der Klägerin erklärte mit Schreiben vom 22.12.2011 die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Das Kündigungsschreiben wurde am selben Tag per Boten und entsprechendem Vermerk in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen. Anfang Januar 2012 suchte der Ehemann der Klägerin den beklagten Rechtsanwalt auf und beauftragte ihn namens seiner Ehefrau, eine Kündigungsschutzklage zu erheben. Er legte ihm das Kündigungsschreiben vor und erklärte, dieses sei am 23.12.2011 zugestellt worden. Ausgehend von diesem Datum reichte der Beklagte, vermeintlich noch fristgerecht, am 13.01.2012 Klage beim Arbeitsgericht ein. Nachdem der Beklagte einen Vergleich auf Zahlung eines Abfindungsbetrages widerrufen hatte, wurde die Klage abgewiesen, weil bei tatsächlichem Zugang des Kündigungsschreibens am 22.12.2021 die dreiwöchige Klagefrist aus § 13 Abs. 1 S. 2, § 4 S. 1 KSchG bereits abgelaufen gewesen war. Nachdem die Berufung der Klägerin erfolglos geblieben war, nahm sie ihren vormaligen Prozessbevollmächtigten zunächst auf Erstattung des Vergleichsbetrages und der Kosten des Berufungsverfahrens in Anspruch, weil er den Vergleich pflichtwidrig widerrufen hätte. Die Klage wurde abgewiesen, die Berufung später zurückgenommen.
II. Vorinstanzen
Mit einer neuerlichen Klage vor dem LG Hamburg forderte die Klägerin sodann die Erstattung von Verdienstausfall in Höhe von 25.770,22 EUR und begründete dies mit der verspäteten Kündigungsschutzklage.
Die Klage wurde als unzulässig abgewiesen und auch die Berufung vor dem OLG Hamburg scheiterte. Der beklagte Rechtsanwalt hätte sich – so das OLG – auf die Angabe des Ehemanns zum Zeitpunkt der Zustellung des Kündigungsschreibens verlassen dürfen, weil es sich insoweit um eine Tatsachenangabe gehandelt hätte, auf deren Richtigkeit der Rechtsanwalt hätte vertrauen dürfen.
III. Die Entscheidung des BGH
Letzteres bewertete der BGH anders. Der Rechtsanwalt hätte die Pflicht zur richtigen und vollständigen Beratung und müsse durch Befragung seines Mandanten den Sachverhalt aufklären, auf den es für die rechtliche Beratung ankomme. Auf die Richtigkeit tatsächlicher Angaben seines Mandanten dürfe der Rechtsanwalt insoweit vertrauen, als er die Unrichtigkeit weder erkenne noch erkennen müsse. Diese Ausnahme gelte aber nicht im Hinblick auf Informationen, die nur scheinbar tatsächlicher Natur seien. Angaben zum Zugang einer Kündigung seien nicht tatsächlicher Natur, sondern sogenannte Rechtstatsachen, weil der im (Kündigungsschutz)Gesetz verwendete Begriff des Zugangs rechtlich bestimmt würde, nämlich danach, wann eine Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt sei, wann dieser die Möglichkeit gehabt hätte, von deren Inhalt Kenntnis zu nehmen etc. Vor diesem Hintergrund hätte der Rechtsanwalt bei einem auf den 22.12.2011 datierten Kündigungsschreiben – trotz der Angabe des Ehemanns – nicht ungeprüft von einer Zustellung am 23.12.2011 ausgehen dürfen, sondern hätte den sichersten Weg wählen und die Kündigungsschutzklage deshalb spätestens am 12.01.2012 einreichen müssen. Denn der Rechtsanwalt hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass dem Ehemann der Klägerin die Kriterien, die für den Zugang einer Willenserklärung (rechtlich) maßgeblich sind, bewusst waren. Er hätte sich stattdessen durch Nachfragen Klarheit verschaffen müssen.
Einen Riegel schob der BGH zudem der Argumentation des OLG vor, die Berufung sei auch deshalb zurückzuweisen, weil die Klägerin nicht schlüssig vorgetragen hätte, dass die unterstellte Pflichtverletzung des Rechtsanwalts deren Schaden verursacht hätte, weil sie nicht dargelegt hätte, was dem Beklagten bei hypothetischer Nachfrage zum Zugang des Kündigungsschreibens denn geantwortet worden wäre. Das Berufungsgericht hätte der Klägerin nämlich durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit geben müssen, zu diesem Punkt substantiiert vorzutragen. Dadurch dass dies unterblieben sei, hätte das Berufungsgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
Ass. jur. Rudolf Bauer,
LL.M. Versicherungsrecht