Zusammenfassende Darstellung zum Urteil des BGH vom 09.07.2020 – IX ZR 289/19.

Ⅰ. Ausgangsfall

Die Mutter der 1997 und 1994 geborenen Klägerinnen wurde bei einem Verkehrsunfall am 30.06.2006 schwer verletzt und ist seitdem schwerstbehindert, auf einen Rollstuhl angewiesen und dauerhaft pflegebedürftig. Nach dem Unfall beauftragte die Mutter der Klägerinnen zunächst eine Rechtsanwältin mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Im November 2006 bestätigte die Streithelferin – der Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers – ihre volle Einstandspflicht dem Grunde nach. Im Dezember 2007 wurde dann der Beklagte mit der weiteren Verfolgung der unfallbedingten Schadensersatzansprüche gegenüber der Streithelferin beauftragt. Das Mandat endete im Mai 2016.

Die beiden Klägerinnen, die bei dem Unfall leicht verletzt wurden, lebten mit starken Schuldgefühlen ihrer pflegebedürftigen Mutter gegenüber. Die Klägerin zu 1 befand sich seit Oktober 2016 in psychotherapeutischer Behandlung, die Klägerin zu 2 hat sich einer solchen Behandlung von April 2013 bis September 2014 unterzogen. Sie behaupteten, ihre Leiden wären auf den Unfall zurückzuführen gewesen und der Beklagte hätte im Rahmen des Anwaltsvertrages mit ihrer Mutter auch sie über (mittlerweile verjährte) Ansprüche, die ihnen gegenüber der Streithelferin zugestanden hätten, aufklären und beraten müssen.

Ⅱ. Vorinstanzen

Das LG Berlin wies die auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gerichtete Klage ab.

Auch die Berufung vor dem KG Berlin war nicht von Erfolg gekrönt. Der Anwaltsvertrag zwischen der Mutter der Klägerinnen und der Beklagten hätte nach Auffassung des KG keine Schutzwirkung zugunsten der Klägerinnen entfaltet. Die für die Annahme eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter erforderliche „Leistungsnähe“ entstehe bei einem Anwaltsvertrag nicht bereits dann, wenn sich für den Rechtsanwalt infolge Erfüllung seiner Vertragspflichten Anhaltspunkte für eigene Ansprüche dem Mandanten nahestehender Dritter aus demselben Rechtsgrund und gegen denselben Antragsgegner ergeben. Entscheidend für die Leistungsnähe sei, dass Sinn und Zweck des Anwaltsvertrages und die erkennbaren Auswirkungen der vertragsgemäßen Leistung auf den Dritten dessen Einbeziehung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben erforderten. Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Die Klägerinnen sollten mit der Hauptleistung des Anwaltsvertrages nicht bestimmungsgemäß in Berührung kommen.

Ⅲ. Das Urteil des BGH

Der BGH bestätigte die im Berufungsverfahren getroffene Entscheidung und wies die Revision zurück.

Ein unmittelbar zwischen den Klägerinnen und dem Beklagten geschlossener Anwaltsvertrag lag nicht vor und war von den Klägerinnen auch nicht behauptet worden. Sie hatten Ihre Ansprüche vielmehr aus dem mit ihrer Mutter geschlossenen Anwaltsvertrag hergeleitet, unter dem Gesichtspunkt eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Dem erteilte der BGH im konkreten Fall eine Absage. Die Klägerinnen seien nicht in den Schutzbereich des geschlossenen Anwaltsvertrages einbezogen worden, auch nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung.

Ein Drittschutz erfordere nach ständiger Rechtsprechung, dass der Dritte mit der Hauptleistung des Rechtsanwalts bestimmungsgemäß in Berührung komme, der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Beratungsvertrages hätte und die Einbeziehung dem schutzpflichtigen Berater bekannt oder für ihn zumindest erkennbar sei.  Dass der Dritte bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Betracht komme, erfordere ein Näheverhältnis, welches das Berufungsgericht beanstandungsfrei abgelehnt hätte. Ein solches läge nur vor, wenn die Leistung des Rechtsanwalts bestimmte Rechtsgüter eines Dritten nach der objektiven Interessenlage im Einzelfall mit Rücksicht auf den Vertragszweck bestimmungsgemäß beeinträchtigen könne. Entscheidend sei, ob die vom Anwalt zu erbringende Leistung nach objektivem Empfängerhorizont auch dazu bestimmt sei, dem Dritten Schutz vor möglichen Vermögensschäden zu vermitteln. Bereits der Auftraggeber müsse ein entscheidendes Eigeninteresse an der Wahrung der Drittinteressen haben. Gegenstand des zwischen der Mutter der Klägerinnen und dem Beklagten geschlossenen Anwaltsvertrages sei hier die Weiterverfolgung der unfallbedingten, zuvor von einer anderen Rechtsanwältin verfolgten Schadensersatzansprüche gewesen, die zum Zeitpunkt der Mandatierung der Höhe nach noch unklar waren. Konkret sei es um Schmerzensgeld, Mehrbedarf, Verdienstausfall und Heilungskosten gegangen. Dementsprechend sei das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerinnen an den Rechtsverhältnissen, die Gegenstand des Anwaltsvertrages werden sollten, nicht beteiligt gewesen wären. Die Leistungsnähe entstehe – wie vom Berufungsgericht festgestellt – nicht bereits dann, wenn sich für den Rechtsanwalt bloße Anhaltspunkte für eigene Ansprüche dem Mandanten nahestehender Dritter wegen desselben Rechtsgrundes ergeben würden. Die Verfolgung der Schadensersatzansprüche der Mutter mache nach Sinn und Zweck sowie Treu und Glauben nicht die Einbeziehung der Klägerinnen in den Schutzbereich des Anwaltsvertrages erforderlich.

Das Berufungsgericht hätte auch die enge familienrechtliche Verbundenheit zwischen der Mutter und den Klägerinnen und der Umstand, dass die Klägerinnen bei dem Unfall selbst ebenfalls verletzt worden wären, nicht unberücksichtigt gelassen.

Und schlussendlich sah der BGH auch keine Warn- und Hinweispflichten als verletzt an. Bei Übernahme des Mandats hätte sich dem Beklagten noch nicht aufdrängen müssen, dass die Klägerinnen später psychisch erkranken würden und ihnen deshalb möglicherweise eigene Schadensersatzansprüche gegen die Streithelferinnen zustehen könnten. Dass er im Rahmen seines Mandats von den Beschwerden der Klägerinnen Kenntnis erlangt hätte oder sich ihm diese hätten aufdrängen müssen, wäre ebenfalls nicht ersichtlich gewesen oder vorgetragen worden.

 

Ass. jur. Rudolf Bauer,

LL.M. Versicherungsrecht